Dr. Konrad Lindner
Text 1 I Einführung
Schweigen brechen
Es gibt ein Schweigen aus Betroffenheit, wie zum Beispiel aus Schmerz, es gibt aber auch ein gelassenes, weil wissendes Schweigen, ein Schweigen aus einem Wissen, dass es Bezirke des Seienden
gibt, die man nicht selber besprechen muss oder sollte. Diesen zweiten Fall erlebte ich am Tag des Offenen Denkmals - am 09. September 2018 - in der Ausstellung der Malerin Annekatrin Brandl auf
der Georg-Schumann-Straße 116. Die Künstlerin trat hinter ihre Bilder zurück, um ihre Farben zu den Menschen sprechen zu lassen. Dadurch leuchtete der "Erdfarbklang" ihrer eindringlichen Arbeiten
umso mehr hervor. Mich brachten die Bilder von Annekatrin Brandl im Sommer 2018 zum Schreiben. Auslöser war am 24. Juni 2018 eine Meeresszene: "an der Seebrücke". Zu sehen in der Ausstellung
„Garten der Lust“ im Blockstellwerk Elsteraue am Rand von Leipzig. Für die Leipzig-Lese-Seiten, ein Kultur-Blog des Bertuch-Verlages, schrieb ich den Artikel „Teufel mit Seeblick“. Gewidmet dem
Bildhauer Christoph Hundhammer und der Malerin der Seelandschaft. Am 2. August 2018 besuchte uns Annektrin Brandl in Schkeuditz, um sich meine Mohnbilder anzuschauen, die im Verlauf des Sommers
entstanden waren. Für eine Broschüre über das „Mohnleuchten“ verfasste ich über diesen Sommertag mit seiner anregenden Diskussion den Text „Farbenleserin“. Weil ich erlebt hatte, wie intensiv
Annekatrin Brandl die Farben um uns herum zu besprechen vermag. Sie lud mich auch ein, in der Nacht der Kunst am 1. September 2018 in ihrer Ausstellung „Auf dem Weg“ drei Blumenbilder zu
präsentieren. Da mir das Treiben während der Nacht der Kunst imponierte und da ich herausgefordert war, über die Bilder von Annekatrin Brandl mit Besuchern zu sprechen, schrieb ich für die
Leipzig-Lese-Seiten den Artikel „Kunstnacht: Mohnleuchten und Meeresrauschen im Wannenbad“. Die Ausstellung wurde noch einmal zum Tag des Offenen Denkmals am 09. September 2018 gezeigt. Der
Architekt Mathias Baudenbacher führte durch das historische Anwesen auf der Georg-Schumann-Straße 116. Hier war aus einer einstigen Bronzefabrik Jahrzehnte hindurch ein Wannenbad und seit 2010
eine Begegnungsstätte im Zeichen der Kunst und der Geselligkeit entstanden. Am Tag des Offenen Denkmals stellte sich Annekatrin Brandl noch einmal der Öffentlichkeit. Aber anders als in der
Kunstnacht, verzichtete sie darauf, über ihre Bilder zu sprechen. Sie nahm sich zurück und trat hinter ihre Bilder. Diese Geste nahm ich zum Anlass, um über die „Erdklangfarben“ ihrer Werke einen
kleinen Text zu erarbeiten. Während Rainer Maria Rilke über die Bilder von Paula Modersohn-Becker erst nach dem Tod der Künstlerin schrieb, indem er das Requiem „Für eine Freundin“ (1908) zu
Papier brachte, habe ich begonnen, über die Bilder von Annekatrin Brandl zu schreiben, als sie quicklebendig - zum Beispiel während des Aufhängens der Bilder für die Kunstnacht - vor mir stand
und wir miteinander sprachen. Beim Schreiben konnte ich einige Ideen aus der philosophischen Ästhetik von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Hans-Georg
Gadamer abfragen. Ich hatte das großartige Erlebnis, dass es Denker gibt, die beim Blick auf die Bilder der tüchtigen Malerin helfen, das Schweigen zu brechen.
Text 2 I zur Ausstellung: "Rot, Gelb und Blau" (21.11.2019)
Rot, Gelb und Blau in Bildern von Annekatrin Brandl
"Wir haben kurz gezeigt, daß die hohe, geistige Lebendigkeit das Ziel des Malers seyn muß. Ein solcher Anklang von geistiger Lebendigkeit muß sich auch in den Landschaften finden." (Georg
Wilhelm Friedrich Hegel im Wintersemester 1820/21)
Nicht nur Linien auf dem Papier, auch Farbflächen auf der Leinwand sind immer eine Abstraktion, eine Auswahl, eine Vereinfachung, eine Zuspitzung und folglich eine Entscheidung der Malenden. Eine
Biographin von Gabriele Münter schreibt, dass für das Schaffen die Malerin (1877 – 1962) ein bekanntes Goethe-Wort zutrifft: "Wer Großes will, muss sich zusammenraffen; / In der Beschränkung
zeigt sich erst der Meister." Mit den Bildern, die Annekatrin Brandl in der Ausstellung "Rot – Gelb - Blau" in ihrem Zyklus "Besinnung auf das Ursprüngliche" vorstellt, wird das Abenteuer der
Farbe riskiert. Sie unternimmt in die Tiefe tauchende Erkundungen, die zum Beispiel auf das berühmte Gemälde "Die heilige Nacht" von Correggio zurückführen, das im Zeitraum 1522 bis 1530
entstand. Vor 1800 das "bekannteste Gemälde in der Dresdener Sammlung". (1; S. 35.) Auch der Kunstphilosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel bewunderte das Bild vor Beginn seiner Berliner Vorlesung
zur Ästhetik am 27. August 1820 in Dresden. Außen auf der Tafel ein tiefes Dunkel, aber im Zentrum des Raumes warmes gelbes Licht, das im Gesicht der jungen Mutter mit ihrem Kind im Arm in ein
weißleuchtendes Scheinen übergeht. Sinnbild für das Jesuskind, das sowohl Glaubende als auch Nichtglaubende berührt. Der begnadete Hell-Dunkel-Maler Correggio schuf ein visuelles Symbol für die
Feier des Gottessohnes, aber gleichsam schuf er ein farbiges Gleichnis für die Feier des Menschenlebens überhaupt. Die Magie des Bildes entfaltet sich aus dem Widerstreit von Licht und
Dunkelheit. Das berühmte Beispiel aus der Galerie in Dresden lenkt hin zu einer alten wie modernen Frage der künstlerischen Arbeit mit der Farbe. Zur Frage danach, was gelbe Flächen auf dem
Malgrund in der Bildkomposition bewirken. Gerade auch dieser Frage geht Annekatrin Brandl in der Sprache des farblichen Gestaltens nach, wenn sie Dachflächen, Häuserwände und Giebeldreiecke
flächig gelb in den Raum stellt, um sie dann aber mit roten, weißen, blauen und braunen Bildpassagen zusammenspielen zu lassen. Derartige Erkundungen reduzieren sich nicht auf farbtechnische
Spielereien. Es geht um mehr als nur um ein Farbkreis-Exempel. Die Farflächenphantasie in den Bildwerken von Annekatrin Brandl ist auf die Deutung des Menschen in seinem planetaren Zuhause
gerichtet. Um die "geistige Lebendigkeit" im sozialen Lebensprozess geht es, um mit Hegel und seiner Philosophie der Kunst zu sprechen. Häuser stehen für Heim, für Heimisch-Sein, für
Geborgenheit, für Familienleben, für menschliches Dasein. Sie symbolisieren menschliche Affekte von der Freude bis zur Trauer, vom Glück der Harmonie bis zum Abgrund nervendender Streitereien. In
dem roten Haus mit dem Bahngleis an der Seite und mit dem roten Baum im Vordergrund geht es aber auch lustig zu. Das Dach des Hauses zerteilt eine weiße Wolke am blauen Himmel in zwei Hälften.
Ein farbfröhliches Haus, das wie aus bunten Holzbausteinen erbaut zu sein scheint. Eine Arbeit, die kindlich daherkommt. Doch dem ästhetischen Gehalt nach ist mit dem Haus unter der weißen Wolke
eine Künstlerin zu erkennen, die souverän über ihr familiäres Woher, über ihre Kindheit und vor allem auch über ihre Farberinnerung erzählt. Die Malerin holt hervor, was sie in der Kindheit als
Farbwelt erblickte und begeisterte. Ein Tun, das vielen Erwachsenen leider nicht mehr gelingt. Das Erinnerungsbild kann als ein Kommentar betrachtet werden zu einer Stellungnahme von Gabriele
Münter, die noch im Alter über sich und ihren Zugriff auf die Farben sagte: "Ich bin nicht auf eine dauernde Stimmung festgelegt und stülpe der Welt keine vorgefaßte Weltanschauung über. (...)
Ich male immer noch so, wie mir der Pinsel gewachsen ist." (2; S. 238.) Mit den Symbol des Hauses thematisiert Annekatrin Brandl – so wie ihr der Farbsinn gewachsen ist - das Zuhausesein
auf unserem verletzlichen Heimatplaneten. Überhaupt nicht bunt fällt das Bild aus, das die Luppe bei Leipzig in ihrer Wiesenumrahmung von der Seite gesehen zeigt. Ein Wasserkanal als Ort der Rast
und Ruhe. Voller Überraschung ist zu lernen, dass langgezogene gleichfarbige Flächen nicht nur einen Bildraum ergeben, sondern auch eine menschliche Gestimmtheit und seelische Verfasstheit
ausdrücken. Nicht Hektik und Rastlosigkeit, sondern aus den gedeckten Farben spricht das ruhige und dankbare Einssein eines Menschen mit der grünen Umgebung seiner Heimat. Keines der sechs Bilder
zeigt sich ohne blauen Himmel. Eine Besonderheit im Zyklus zum Ursprung ist jedoch: Drei Bilder mit rundem Mond. Also gleich mehrere Szenen am Abend oder sogar in der Nacht. Das Eintauchen in
nächtliche Farbwelten beinhaltet ein Novum gegenüber der Ausstellung vom August 2019 in Leipzig-Gohlis. In der Bildserie für "Rot – Gelb - Blau" schwingt der farbenstarke 40-Bilder-Zyklus nach.
Eine herausragende Arbeit in dem Zyklus für die Ausstellung "Schichten" ist das Bild "Wannenbad". Eine historische Ziegelbauhalle ohne Putz und ohne Glasfenster verwandelt sich in dem Bild in
einen Kunsttempel mit gelb und blau leuchtenden Säulen. Ein Ort, an dem sich Außerordentliches ereignet. Vorgestellt wird das "Wannenbad" auf einem Hinterhof in Leipzig-Gohlis. Ein Ort, der die
Verwandlung in einen Kunstraum vollzog. Der Raum, an dem Annekatrin Brandl 2018 und 2019 durch ihre Bildpräsentationen die Farbigkeit des Expressionismus feiern konnte. Den 40 Wannenbad-Bildern
vom August 2019 und den 6 Atelier-Bildern vom November 2019 ist eines gemeinsam: Hier ist ein intimer Dialog der Leipziger Künstlerin mit den Malern vom "Blauen Reiter" und speziell mit Gabriele
Münter zu erleben. Bei Münter-Bildern wie bei Brandl-Bildern gilt oft der Satz: "Der Schatten gerät zur Nebensache." (2; S. 133.) Auch in dem Zyklus "Besinnung auf das Ursprüngliche" treten die
Schatten in den Hintergrund. Häuser und Bäume, aber auch Himmel und Erde geben sich durch einheitliche Farbflächen zu erkennen. Wie Münter kultiviert Brandl eine Malweise, mit der die
Farbförmigkeit des Wirklichen nicht einfach nach oder abgebildet wird. Beiden Künstlerinnen liegt daran, gültige symbolische Formen in Farbgestalt zu entdecken und zu schaffen, die mit Stillleben
oder Landschaften, mit Personen oder häuslichen Szenen da draußen korrespondieren, aber kein Abklatsch des Erblickten sind. Indem das sichtbar Wirkliche geistig wie praktisch verarbeitet und in
Eigenes übersetzt wird, gelingt das Erschaffen einer neuen Welt. Im Atelier entsteht eine andere sowie subjektive und dadurch starke Wirklichkeit. Bei seinem Nachdenken über "Die Erfahrung der
Kunst" lag dem Philosophen Hans-Georg Gadamer daher stets an dem Nachweis, dass das Bild "eine autonome Wirklichkeit" konstituiert. Bilder realisieren, wie er weiter argumentiert, einen "Zuwachs
an Sein". (3; S. 145.) Die Affinität von Annekatrin Brandl für die Münter-Bilder sowie für die Liebe und Freundschaft, welche diese Frau mit Wassily Kandinsky verband, verrät analytischen
Scharfsinn. Um es deutlich zu skizzieren, möchte ich behaupten, dass das Team "Münter & Kandinsky" durchaus in einer intellektuellen Liga spielt, in der auch der Physiker Albert Einstein
unterwegs war. Einstein gelang angeregt durch Ernst Mach ein atemberaubender Abstraktionsprozess. Er schuf eine verallgemeinerte Relativitätstheorie, mit der er in die Erforschung der Gravitation
die Nichteuklidische Geometrie hereinholte. Was es ihm erlaubte, während des Ersten Weltkrieges eine durch das Schwerefeld der Sonne verursachte Raumkrümmung vorherzusagen. Was Gabriele Münter
leistete, war nun aber nicht weniger genial. Sie erlernte durch das Training der Hinterglasmalerei etwas Verrücktes, das von der Tradition der Alten Meister abweicht. Sie wagte in der Kunst eine
Unternehmung, die wie der Begriff der Gravitation in der Physik ebenfalls mit der Frage des Raumes zu tun hat. Ein in dieser Hinsicht spannendes Bild ist die "Bayerische Landschaft mit Einödhof"
von etwa 1910. Farblich stimmig vereint sind blauer Himmel, lila Bergkette, hellgrüne Wiese, ein weißes Haus mit rotem Dach, aber auch Bäume sowohl in dunklem Tannengrün als auch mit einem gelben
Herbstkronenkleid. Münter verzichtet in ihren Farbflächen fast völlig auf den Licht-Schatten Kontrast. Sie enträumlicht die je partiellen Farboberflächen. Aber das Geniale und der Ausdruck für
"die geistige Lebendigkeit" ihrer Bilder, um wieder mit Hegel zu sprechen, ist, dass bei aller Verflachung des Nichteuklidischen oder bei aller Euklidisierung im Farbauftrag dennoch per Pinsel
auf den Tafeln gültige Landschaftsräume entstehen. Wenn Kunst denken würde, dann würde sie über Münters Wagnis staunen. Dann würde sie den Dialog mit Hegel suchen, zumal der Logiker bereits
1820/21 über sinnlichen Raumaufbau durch Farbfleckwahl nachdachte. Eine Schlüsselfrage das praktischen Malens. Kurzum: In den Bildern der farbanalytisch orientierten Künstler des Expressionismus
fügen sich viele subjektiv gewählte Farbflächen zu stimmigen Farbspielen. Diese von Bild zu Bild erstaunlich verschieden inszenierten Farbspiele stellen etwas ähnlich Elementares dar wie die
"Sprachspiele", die Ludwig Wittgenstein in seinem Spätwerk "Philosophische Untersuchungen" in den Fokus seines Suchens und Forschens rückt. Ich finde es großartig, wenn Wittgenstein beim
Verdeutlichen der "Mannigfaltigkeit der Sprachspiele" auf so unterschiedliche Redeformen wie einen "Witz machen" und "Beten" verweist, aber auch auf "Befehlen", auf einen "Reigen singen" und auf
"Rätsel raten" oder auf eine "Hypothese aufstellen und prüfen" und nicht zuletzt auf "Bitten, Danken, Fluchen". (4; S. 110/111.) Von der Wittgenstein-Warte der Vielfalt der menschlichen
Kommunikation aus gesehen, sínd die Bilder von Annekatrin Brandl je verschiedene und gültige Farbspiele. Ihre Bilder - wie die Häuser am Gleis oder vor dem Hügel oder unter dem Vollmond
ebenso wie die Luppe von der Seite gesehen und wie der Fluß, der von der Brücke aus erblickt wird - lassen sich angelehnt an Wittgenstein als Farb-Spiele auffassen. - Hegel stand am Tag seines
50. Geburtstages im August 1820 erstmals in Dresden vor dem Bild "Die heilige Nacht" von Correggio und vor dem Werk "Die Sixtinische Madonna" von Raffael. (7: S. 24.) Er dozierte in seiner
Vorlesung zur Philosophie der Kunst in Berlin dann darüber, dass die "Musik der Malerei" auf der "Harmonie der Farben" beruhe. (5; S. 178.) Ein ästhetischer Fingerzeig, der bei Hegel ein Ergebnis
eigener "Augenerlebnisse" war, um eine Wortschöpfung von Münter zu bemühen. (2; S. 174.) Hegel hat sich im Wintersemerster 1820/21 in Berlin in der Ästhetik über die Grundfarben Rot, Gelb
und Blau Gedanken gemacht. Er versuchte zu erläutern, warum die christlichen Maler der Maria "das tiefe, empfindungsreiche Blau zum Gewande gegeben" haben. (5; S. 177.) Wer in der Tradition von
Hegel über Malerei nachgrübelt, der kommt nicht an den Farbwahlanalysen von Annekatrin Brandl vorbei, die sie in ihren Landschaftsbildern unternimmt. Ich hege die Überzeugung: Wer Hegels
Kunstphilosophie verstehen und besprechen möchte, sollte sich die Farbarbeiten der tüchtigen Malerin ansehen und über ihr Werk nachdenken. Dann ist jedoch auch zu lernen, dass Hegel nicht zuletzt
in der Kunst ein bodenständiger Philosoph war, der sich sowohl für die Musik "von größter Tiefe" bei Johann Sebastian Bach begeisterte als auch für das Spiel der Farben Rot und Blau in den
Gewändern von Raphaels Sixtinischer Madonna. (6; S. 318.) Die Zukunft wird zeigen, was das Bild "Alles fließt" mit dem dunklen Blauton für den Fluss, mit dem hellen Blauton für den Himmel und mit
dem Weiß im Vollmond in Zukunft bewirken wird. Aber diese Arbeit in der Ausstellung "Rot – Gelb - Blau" besitzt eine Magie, die Jahrzehnte und Jahrhunderte überstehen kann, weil es Menschen geben
wird, die sich dieses Farbspiel sowie weitere Farbentdeckungen von Annekatrin Brandl wieder und wieder wie Corregio's heilige Nacht anschauen möchten. Meinem Freund - dem Bildhauer Matthias
Jackisch - mailte ich am 18. November 2019 eine Fotografie mit den Bildern der Ausstellung. Jackisch schrieb am 19. November 2019 über den farblichen Dialog zwischen Annekatrin Brandl und mir:
"Andere Menschen begegnen sich per Zufall auf der Straße, weil die Autos sich zu nahe kamen, andere im Wald auf der Jagd nach Pilzen oder eben zum Tanz, ihr begegnet Euch mit den Bildern und das
ist ja ein spannender Dialog. Wenn Du das Rot anfasst, macht es etwas anderes, als wenn Annekatrin sich am Rot versucht. Und die ganze Art des Umgangs mit dem Thema 'Bild' zeigt sehr viel von
Euch, herrlich, dass ihr beide Bildräume betretet, wunderbar, wie verschieden das Temperament des Farbauftrags ist, da ist soviel zu entdecken, letztlich entsteht ein Bild gegenseitiger Akzeptanz
und großen Respekts vor dem Anderen und dem Anderssein." Ja, ich bewundere den Zyklus "Besinnung auf das Ursprüngliche" und bedanke mich dafür, dass ich mit meinen Äpfeln und Birnen im
Farbquadrat an der Ausstellung "Rot – Gelb - Blau" teilnehmen darf.
Text 3
Erdfarbklang
Die Leipziger Malerin Annekatrin Brandl schafft Werke, die eine eigene Farbigkeit besitzen. Die Farben ihrer Bilder, die sie in der Nacht der Kunst am 01. September 2018 und am Tag des Offenen
Denkmals, am 09. September 2018, der Bürgerschaft auf der Georg-Schumann-Straße 116 präsentierte, überschreiten die Farben der Natur. Dunkelblaue Farbenspiele, Kompositionen im Ockerton sowie im
Sandgrau oder Rotbraunschimmer tragen ein tiefes Erdgefühl in die Bilder hinein. Aus diesem Grund machte ich bei Hans-Georg Gadamer Station, der sich in seinem Essay über Martin Heidegger und
dessen Vortrag zum Ursprung des Kunstwerkes (1935/36) fasziniert davon zeigte, wie dieser die Erde in unser Bewusstsein rückte. Heidegger behandelte in seinem Vortrag den Unterschied zwischen
Ding, Zeug und Werk. Er arbeitete heraus, dass die Werke der Kunst – nicht nur die Statuen, sondern auch die Bilder - von der Erde durchwirkt werden. Gadamer referierte den Gedankengang
seines Kollegen mit den Worten: „Erde ist in Wahrheit nicht Stoff, sondern das, woraus alles hervorkommt und wohinein alles eingeht.“ (S. 106.) Die Bilder von Annekatrin Brandl, die im September
2018 in einer einstigen Bronzegießerei, einem späteren Wannenbad und einem heutigen Raum der Begegnung zu sehen waren, erzählten davon, dass wir Kinder der Erde sind. Es handelte sich
um Bilder, bei deren Deutung von Heidegger ein geistiges Angebot kommt. Die Farben in einem Kunstwerk beschreibt der Philosoph aus Meßkirch nicht als Stoff. Farben reduzieren sich im Kunstwerk
nicht auf Ding und Zeug. Wenn „die Farben zum Leuchten“ anheben und sich zum Werk fügen, werden sie zum Träger von Sinn. Das Werk stellt sich aber, wie Heidegger anmerkt, hinter „das Leuchten und
Dunkeln der Farbe“ zurück. (S. 42.) Annekatrin Brandl trat jedenfalls auch hinter ihre Bilder, indem sie das Publikum nicht durch Worte zu beeindrucken suchte, sondern ihre Farben zu
den Menschen sprechen ließ. Besonders das Bild „Das Elternhaus“ mit dem weiten und hohen Himmel brachte den Ziegelraum zum Klingen. Die Szene mit den zwei Laternenmasten vor der Häusergruppe und
mit dem hellen Licht am Horizont erzählte von einem Geschehen, das Heidegger gemeint haben dürfte, wenn er das Sein der Kunst in die Verwandlungen der Erde hineinstellte: „Wohin das Werk sich
zurückstellt und was es in diesem Sich-Zurückstellen hervorkommen läßt, nannten wir die Erde. Sie ist das Hervorkommend-Bergende. Die Erde ist das zu nichts gedrängte Mühelose-Unermüdliche. Auf
die Erde und in sie gründet der geschichtliche Mensch sein Wohnen in der Welt.“ (S. 43.) In dem Bild „Das Elternhaus“ ist kein Mensch zu sehen. Dennoch berichtet Annekatrin Brandl von
unserem Dasein, in dem wir wie Pflanzen aus dem Elternhaus hervorwachsen, uns von ihm trennen und entfernen, aber diese Erdung in unserer Erinnerung als geistiges Gut bewahren. Die Heiligkeit von
Mutter und Vater veranlasst uns gerade auch im Erwachsenenleben, sich dankbar an unser Woher und an das Haus des Herkommens zu erinnern. Wer die reduzierte Farblichkeit in dem Bild „Das
Elternhaus“ auf sich wirken ließ, den erfasste eine Gestimmtheit der Ruhe, der Sammlung und des Dankes für unsere irdische Verwurzelung.
Text 4
„Krieg/Frieden“ – Text und Zeichnungen von Annekatrin Brandl
Der Text ist dicht, authentisch, spannend, erhellend. Man liest ihn in einem Zug. Hat man angefangen, kann man nicht aufhören. Weil man sich mit dem "Ich sehe", "Ich fühle", "Ich erlebe" der
Schreibenden/Berichtenden identifiziert. Durch den Text wird der Gedankenfluss und der Eindrucksstrom einer Reise mit den unterschiedlichsten Verkehrsmitteln bis hin nach Mostar zu einer
Hinführung zu den Zeichnungen vor Ort. Die Menge der Zeichnungen ergibt eine Fülle, die berauscht. Heftig. Kunst mit sympathischem Übermut. Aus den vielen, vielen Zeichnungen scheint eine
unbändige Lust des Sehens oder gar eine Gier des Schauens zu sprechen. Oder besser: Eine kraftvolle Freude des Entdeckens kommt in Gestalt von 45 Bildeinstellungen zum Zuge. Linien des Alltags,
der Straßen, der Häuser, Lebenslinien einer Konfliktregion, in der die Spuren des Krieges noch gegenwärtig sind, aber doch auch ein Danach zur Gegenwart geworden ist, das "Frieden" genannt wird.
Ein Zwischenzustand, ein Raum der Wandlungen und Verwandlungen wird bedacht, erkundet, porträtiert. Nicht ohne Anteilnahme. Im Zentrum die berühmte Brücke. Die Künstlerin hat sie gesehen und
mehrfach gezeichnet. Symbolischer Ort. Fensterreihen, Türme, Baumgeäst und Büsche werden auf den Blättern zu Linien mit Schwung. Haus und Baum ein graphisch Gemeinsames. Bizarres wie Elementares
in all' dem, das sich zum Fest des Skizzenhaften fügt. Merkwürdig: Angedeutetes wird zum Bild, zur Gewissheit eines heimatlichen Raums. Masten, Bäume, Straßen, Wohnungen summieren sich zu
Landschaften. Landschaften, die variieren enthalten Leben. Pulsierendes Leben. Text und Bild empfindet man schon nach einem flüchtigen Durchsehen als eine Komplementarität von Wort und Zeichnung.
Eines benötigt das Andere. Visuelles und schreibendes Denken ergänzen sich. Eine Verdichtung. Sie lässt Zeichnung als Dichtung sichtbar werden und den erzählenden Bericht als Folge innerer
Bilder. In "Krieg/Frieden" sind Reiseschilderung und Zeichnungsserie zu zwei Seiten einer geglückten Unternehmung gereift. Weder hat die Autorin ihr seelisches Zerrissensein um den Verstand
gebracht, noch ist ihr der Stift am Ort des Zeichnens im Angesicht der Widersprüche steif aus der Hand gefallen. In der Kunstreise zur Brücke in Mostar stecken Power wie Sinnlichkeit, Freude wie
Einfachheit, Neugier wie Lebensweisheit, analytischer Scharfsinn wie Menschlichkeit. Das Projekt "Krieg/Frieden" weitet bei Lesern und Betrachtern den Horizont. Erstaunlich, was ein Zeichenstift
alles über Gassen, Hausfassaden, Bauernhäuser und Bäume erzählen kann. Danke!
Text 5 I Bildbesprechung: "Nr.1 - Erinnerung" 2016,
Pastell auf Papier ( Zyklus: "Raum")
Die Brücke
Anstelle der Horizontlinie ist eine der Leipziger Brücken zu sehen, die das Elsterflutbecken überqueren. Über der Straße am Horizont eine helle Himmelsfläche im rötlichen Schimmer. Das Wasser
strömt dem Betrachter nicht mit blauen Wellen entgegen, sondern im breiten Goldtonfluss. Es könnte bereits Abend geworden sein. Das Licht zeigt sich nur noch verhalten. Die Dämmerung ist nahe.
Von grellem Tageslicht keine Spur mehr; aber die Dunkelheit hat noch nicht die Szene ins Einerlei der Nacht tauchen können. Ein Schwebezustand, eine Überganssitutation, ein Wechsel der Stimmungen
wird durch das Bild mitgeteilt. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Bücke. Auf den Ort, an dem das eine Ufer mit dem anderen Teil der Stadt verbunden wird und wo das Bekannte auf das
Unbekannte trifft. Eine Brücke vereinigt Getrenntes. Sie überschreitet die voneinander getrennten Landstriche. Sie ermöglicht die Begegnung des Eigenen mit dem Fremden. Indem sich auf dem
dreiteiligen Bild die scharfen Kunturen verlieren, weil sich die Bäume am Ufer in Flächen verwandeln, aber auch dadurch, dass sich die Helligkeit des Tages verliert und die Träume und Sehnsüchte
der Nacht herbeizuströmen beginnen, bringt das Bild nicht nur eine Szene vom Rande Leipzigs zur Ansicht. Es geht um mehr. Der Künstlerin Annekatrin Brandl gestaltet mit ihrer Arbeit das Wunder
der menschlichen Begegnung. Brücken sind Bauwerke. Sie sind aber auch Symbole. Sie berichten davon, dass Grenzen überschritten werden können und dass im Menschenleben gerade auch Liebe
entstehen und gelingen kann. Liebe eröffnet ein Bei-Sich-Sein im Sein-Beim-Anderen. Auf der Straße, die an der Grenzlinie zwischen dem luftigen Himmel und dem strömenden Fluss entlangführt, sind
keine Personen zu entdecken. Und doch stellt sich die Gewissheit ein, dass sich in diesem Augenblick auf der Brücke Ich und Du sowie Du und Ich begegnen. Wir nehmen eine derart intensive
Begegnung wahr, so dass sich der Himmel rötet und das Wasser vergoldet. Offenbar sind sich zwei Menschen auf der Brücke derart nahe gekommen, dass sich die Farben im Raum ändern und eine
alltägliche Landschaft durch warme Farbtöne in eine feierliche Stimmung verwandelt. Im jetzigen Moment der Dämmerung kann niemand vorhersagen, was die Zukunft den Beiden bringen wird, die sich
auf der Brücke gerade in die Augen schauen. Aber dass Hoffnungen, Leidenschaften und Sehnsüchte den Raum wie Musik durchwirken, dass der geistige Zusammenprall von zwei Menschen, die einander
bis eben fremd waren, von den Beteiligten urplötzlich als Verwandlung der Welt empfunden werden kann, das erzählt die dunkle Brücke mit ihren Bögen und hellen Pfeilern in aller Ruhe. Nicht ein
einziger Mensch ist auf dem Bild zu sehen und doch geschieht ein menschliches Ereignis. Dort, wo die Rottöne auf das Dunkelbraun der Brücke prallen. Dort, wo die magischen Farbflächen oberhalb
und unterhalb der Brückenlinie aufeinander zustreben. Die Leipziger Malerin hat mit ihrem Tafelbild eine Brücke in einen emotionalen Raum verwandelt, durch den wir an ihrer Erfahrung teilhaben,
dass Liebe möglich sein kann. Ihr Bild erzählt von dem Urerleben, das der antike Philosoph Plato mit den Worten ausdrückt, dass der Seele durch die Liebe Flügel wachsen.
Text 6 I Nachbesprechung Ausstellung: "Garten der Lust" 2018
Teufel mit Seeblick – Kunst im Blockstellwerk Elsteraue
Mit verschmitztem Blick schaute der Gehörnte aus dem Busch hervor. Mir gefiel sein Blick und die Gedanken wanderten zur Schülerszene und zum Mephisto der Faust-Dichtung des berühmten Leipziger
Studenten Johann Wolfgang von Goethe. Die von Geäst umrahmte Skulptur aus Holz steht mit vielen anderen plastischen Werken für die Verwandlung des Bahnwärterhäuschens und des umliegenden Gartens
in der Elsteraue zu Leipzig in einen Ort der Kunst und der Begegnung: Die Wirkungsstätte des Leipziger Bildhauers Christoph Hundhammer. Der Juni 2018 brachte einen Höhepunkt mit sich. Am grünen
Ort lockten Skulptur, Plastik und Zeichnung von Annekatrin Brandl und von Hundhammer in die Ausstellung „Garten der Lust“. Der Bildhauer, der auch Zeichnungen wie zum Beispiel ein Liebespaar in
heftiger Umarmung ausstellte, ließ seine plastischen Arbeiten mit den Farben und Linien in den Werken einer Leipziger Malerin in Dialog treten. Mit dabei die Teufelspersonen in Holz und Gips des
Bildhauers Hundhammer. Sie erzählen, wie ich fand, etwas Wichtiges über uns Menschen. Wer den Teufel in sich nicht hin und wieder zulässt, hat nicht angefangen zu leben. Denn das
Mephistophelische in unserem Tun und Lassen hat mit dem Zweifel zu tun, mit der Lust am Fragen und Infragestellen und mit einem kritischen Geist, der nüchtern verneint, was zu hoch auf dem Sockel
steht. Die Menschenköpfe, die Hundhammer im Garten versammelt hat, beeindruckten. Sie reduzierten sich nicht auf gleichförmige Gesichter oder gar Nummern, sondern offenbarten bizarre Charaktere.
Der Bildhauer schafft Menschenwesen, die etwas erlebt haben. Hier die kräftige Nase. Dort der gestreckte Hals. Da das Aus-Stücken-Zusammengefügtsein einiger Köpfe. Arbeiten aus Holz, Stein und
Gips forderten zum Hinsehen auf, aber auch zum Berühren. Sie entlockten den Besuchern nicht nur ein Erstaunen, sondern auch ein Lächeln. Der fremde Finger durfte einer Schönen in Stein sogar
ungeniert auf dem glatten Bauch entlangfahren. Obwohl im Unterschied zu Hundhammer als Malerin der Fläche verpflichtet, spielen auch die Zeichnungen von Annekatrin Brandl letztlich im
dreidimensionalen Raum des menschlichen Erlebens. In bizarren Bäumen und kräftigen Büschen in Schwarz-Weiß waren, wie mir schien, auf den Strichen und Linien menschliche Leidenschaften mit im
Spiel. Zu spüren war bei genauerem Hinschauen, dass nicht nur Liebe und Anziehung, sondern auch Haß und Abstoßung zum Leben und zur Kunst in bewegten Zeiten gehören. Nach dem Dialog mit dem
Teufelchen aus Holz draußen im Garten stand ich im Bahnwärterhäuschen plötzlich vor einem Seeblick. Ferne tat sich auf. Reiseerinnerungen wurden geweckt. Ein frischer Hauch von Freiheit umströmte
mich, als ich in die Weite schaute, in der sich das leicht rauschende Meer und der blaue Himmel trafen. Durch nichts wurde das Gefühl des Aufgehobenseins im Raum von Strand, Meer und Himmel
gestört. Dankbar entdeckte ich einen feierlichen Lichtschimmer durchsichtigen Wassers, das den Strand rhythmisch streichelte. In Gedanken versinkend begann ich ihn zu fragen, den
Philosophen Friedrich Nietzsche, der wie Goethe in Leipzig studiert hatte und der in seinem Text „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (1872) den musischen Urgrund der Kunst zur
Sprache brachte: Verwandelt sich ein Bild wie das meisterhafte Meeresbild von Annekatrin Brandl beim Hinschauen nicht aus einer Farbfläche in einen dionysischen Emotionsraum? Ich glaubte
jedenfalls, dass mich der „Zauber des Dionysischen“ zu berühren begann, als ich beim Blick über die Wasserfläche die sonstige Welt um mich herum vergaß und mich in einem Moment unbegrenzter
Freiheit angekommen erlebte. Eben so, wie man fühlt, wenn man nach langer Reise die hohen Dünen überwindet und sich den Augen die Weite des Meeres und des Strandes eröffnet.
Nietzsche schreibt über das Dionysische: „Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege,
tanzend in die Lüfte emporzufliegen.“ Beim Blick über die tiefen Farboberflächen hinweg bis zum Himmelsblau hatte ich dieses Gefühl des Emporfliegens, obwohl ich mit beiden Füßen an Land und auf
dem Boden stand. Gedankt sei den Arbeiten der Malerin Annekatrin Brandl und des Bildhauers Christoph Hundhammer, die im Juni 2018 in der Freilandgalerie Blockstellwerk Elsteraue in Leipzig ein
Wochenende lang zu entdecken waren. Sie waren eine Ermunterung zu einem freudigen und aufmerksamen Sehen, das in der Bürgerstadt Leipzig eine große Tradition besitzt.
Text 7 I Gemeinschaftsausstellung von Dr. Konrad Lindner & Annekatrin Brandl "NDK" 2018
Kunstnacht: Mohnleuchten und Meeresrauschen im Wannenbad
Kunst steht für Leben, für Vitalität. Die neunte Nacht der Kunst auf der Georg-Schumann-Straße im September 2018 war ein Festival der Sinne, an dem ich selber mit einigen Bildern beteiligt
war, weil mich eine Leipziger Künstlerin eingeladen hatte. Eine Einladung, der ich sehr gern gefolgt bin, weil ich mit meiner Familie von 1982 bis 2002 selber in Gohlis gelebt habe. Die
Georg-Schumann-Straße empfand ich in der späten DDR als Symbol des Zerfalls und des Niedergangs der Gesellschaft, für die ich mich in der Jugendzeit entschieden hatte. Dieser Zerfall wurde nicht
schon zum Zeitpunkt der deutschen Einheit gestoppt. Das Wiederaufleben der weitläufigen Straße benötigte Jahrzehnte und Ausdauer. Wenn mich die Malerin Annekatrin Brandl eingeladen hat, in ihrer
Ausstellung im einstigen Wannenbad im Hinterhof auf der Georg-Schuman-Straße 116 mitauszustellen, war ich beglückt. Voller Neugier durfte ich die freiheitliche Prozession der Bürgerschaft durch
die vielen Präsentationen an diesem Septemberabend miterleben. Hier in den Geschäften an der Straße und dort in wundervollen Hinterhöfen und da in der Bibliothek Gohlis „Erich Loest“ und nicht
zuletzt bei dem Verein Pandechaion – Herberge e. V. mit den schmackhaften Speisen, die Flüchtlinge bereitet hatten. Als ich dann im Raum einer einstigen Werkstatt neben meinen eigenen Bildern
stand, war ich plötzlich herausgefordert, über das Mohnleuchten meiner Blumenbilder und über die Blautiefe der Meeresbilder von Annekatrin Brandl zu philosophieren, die in diesem Raum vereint
waren. Einige der Gedanken möchte ich hier erzählen, indem ich den 1. September 2018 auf der Georg-Schumann-Straße 116 als ein glückliches Ereignis und als ein Fest des Sehens beschreibe, bei dem
auch einiges über philosophische Ästhetik zu lernen war. Immerhin ist die Frage, was das Meeresrauschen mit dem Mohnleuchten zu tun hat, nach meinem Verständnis - als Hobbykünstler - eine
Grundfrage des Philosophierens über Harmonie und Musikalität in der Malerei.
Mohnbilder
in der Diskussion
In der Nacht der Kunst auf der Georg-Schumann-Straße strömten am 01. September 2018 in aller Ruhe erstaunlich viele Leipziger durch die Ausstellung von Annektrin Brandl, die mich eingeladen
hatte, drei meiner Bilder auszustellen. Ein Mohntrio und eine Gruppe Stiefmütterchen hingen an der Wand. Beide Aquarelle waren im Jahr 2017 entstanden. Auf einer kleinen Staffelei stand
aber auch ein Mohnbild in Acryl aus dem Juli 2018, das die roten Blüten im gelben Getreidefeld zeigt. In diesem kleinen Ausstellungsraum zeigte aber auch Annekatrin Brandl zwei große Holztafeln,
auf denen zum einen architektonische Szenen unter dem Titel „Licht in der Stadt“ und zum anderen Wasserszenen unter dem Titel „Meereslicht“ versammelt waren. Die Menschen, die in den Raum kamen,
schauten bei meinen Arbeiten zunächst meist nicht zu dem Mohn, den ich in Acryl gespachtelt hatte. Sie wandten sich vor allem zu den beiden Aquarellen hin. Hier eine Gruppe Stiefmütterchen und
dort drei Mohnblüten, die ich in der Seitenansicht gemalt hatte. Bei meinen Farbstudien war es jeweils darum gegangen, sich darauf einzulassen, dass das Wasser auf dem Malkarton fließt und dass
die Farbe nach eigenen Fließgewohnheiten aus dem Pinsel strömt und sich frei auf dem Malgrund verteilt. Die Freiheit des Fließens war den Bildern anzusehen. Bei zahlreichen Besuchern fanden sie
eine entsprechende Beachtung. Bei den Arbeiten in den Medien Aquarell und Acryl, die ich ausgestellt hatte, wurde die Farbe im Voraus auf der Palette angerührt und gemischt. Anders bei den
Pastellarbeiten von Annekatrin Brandl, die sie sowohl in der großen Räumlichkeit des einstigen Wannenbades als auch in dem Nebenraum ausstellte. Bei allen Bildern arbeitete die Künstlerin mit
Pastellkreide, die sie Schicht für Schicht direkt auf den Malgrund aufgetragen hat. Als ich in der Kunstnacht vor den Bildern stand, war ich hin und wieder dazu herausgefordert, über das zu
sprechen, was sich den Besuchern darbot. Ich erzählte von meinem stillen Dialog mit Hans-Jürgen Gaudeck, der für ein Mohn-Gedicht von Eva Strittmatter ein Mohnaquarell gezeichnet hatte. Sein Bild
wünschte sich meine Frau von mir und ich habe es als Aquarellübung für mich nachempfunden. Es kamen Gäste in den Raum, die das Bild aufmerksam betrachteten, um aus den großen Blüten mit den
schlanken Stengeln dann sogar eine Liebessymbolik herauszulesen. Erstaunliche, aber adäquate Deutungen standen plötzlich im Raum, so dass ich auch von meinem Nachdenken über Vulkanästhetik und
seelische Eruptionen im Menschenleben erzählen konnte. Immerhin war es der Klatschmohn, der mich legitimiert hatte, die Farbe Rot dick auf die Leinwand zu bringen, wodurch von diesen
Leuchtflecken zum Teil heftige Emotionen ausgelöst werden, wie Exzess und Rausch. Ich erzählte von dem Vulkanfotografen Wolfgang Müller, dessen Aufnahmen mich mit angeregt hatten, als ich im
Sommer 2018 damit begann, den Mohn am Wegesrand in seiner Farbkraft zu porträtieren. In den Gesprächen über meine drei Bilder eröffnete sich mir die Chance, einige der Gedanken zu testen, die ich
gerade zum „Mohnleuchten“ formuliert hatte. Darunter war auch der Hinweis, dass von den Farben die Musik der Malerei ausgehe.
Elternhaus
mit Farbflächenmagie
Im Rotbraunschimmer waren auf der einen Tafel architektonische Gruppen zu sehen und auf der anderen Tafel erblickten die Besucher Meeresszenen im Blaufarbton. Beide Bildgruppen hatte die Malerin
Annekatrin Brandl ausgestellt, die mir die Tür geöffnet hatte, mit Blumenbildern an der Nacht der Kunst teilzunehmen. Dadurch traten meine Bilder mit den Arbeiten der jungen Leipziger Malerin in
einen Dialog. Bei aller Differenz in Technik und Thema entdeckte ich eine Gemeinsamkeit: Beide hatten wir unsere Bilder in einer Ästhetik verfasst, die ich als eine Nicht-Grün-Ästhetik bezeichnen
möchte. Der Verzicht auf das Pflanzengrün stellt auf den ersten Blick eine Ungeheuerlichkeit dar. Ohne Pflanzen hätten wir keine Luft zum atmen und keinen Salat zu essen. Pflanzen bilden die
erdgeschichtliche Basis jeglichen Tier- und Menschenlebens. Die Farbe Grün beeinflusst unser Wohlbefinden daher weitaus stärker, als uns dies meist bewusst wird. Aber in der künstlerischen
Abstraktion ist Erstaunliches erlaubt. Annekatrin Brandl malt Häusergruppen, vor denen keine grünen Bäume stehen. Höchstens die Andeutung einer kugligen Baumkrone erlaubt sie sich. Man sieht auch
keine Menschen und kann sich folglich nicht sicher sein, ob die Häuser, die sie ins Bild gesetzt hat – wie ihr Elternhaus – wirklich bewohnt sind. Wir schauen und wir rätseln. Wir beginnen ein
Selbstgespräch, bei dem wir unbewusst und dennoch systematisch die Räume der Bilder mit ihrem Vordergrund und ihrem Hintergrund durchschreiten. Wir entdecken sehr bald, dass die architektonischen
Gruppen und Häuserzeilen von Annekatrin Brandl meist deutlich in die Grunderzählung der Bibel eingebettet sind, wonach Gott zunächst einmal Himmel und Erde geschaffen hat. Ihre Häuserfassaden
finden sich ein in das Oben des Himmels und das Unten der Erde. Wir erkennen menschliche Behausungen und werfen die Frage danach auf, wo wir uns eigentlich Zuhause fühlen. In einem Teil der
Arbeiten von Annekatrin Brandl entfalten sandsteinfarbene Ockertöne und rotbraune Ziegelflächen ein Spiel der Farben, in dem wir die Schwerkraft spüren und unser Dasein in seiner Erdgebundenheit
porträtiert sehen. Die Leipziger Künstlerin steht mit ihrer Brauntonliebe in der Geistestradition von Paula Modersohn-Becker, der es auf die Erdung der Menschen ankam. Wir denken unweigerlich an
Friedrich Nietzsche, der in Worpswede verehrt wurde. Der Denker legte seinem Zarathustra den Satz in den Mund: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu ...“. Auf den Ziegelflächen
des einstigen Wannenbades der Georg-Schumann-Straße entfaltete das Gemälde „Elternhaus“ mit dem hohen und weiten Ockerhimmel, mit dem hell leuchtenden Horizont und dem rötlichen Haus mit den
beiden Laternenmasten davor eine erstaunliche emotionale Kraft. Aus Farbflächen wurde ein Emotionsraum. Ein Raum der Erinnerung der Künstlerin an ihr Woher und an ihr Zuhause. Ohne Mutter, Vater
und Geschwister einzeln ins Bild zu setzen, holte die Künstlerin den Betrachtern ein Bild vor Augen, das von Herkunft und Heimat erzählt, indem es einfach nur Häuser zeigt. Wir empfinden
Bodenhaftung und erahnen unser Verwurzelt-Sein in Gemeinschaften, die Häuser errichten, gestalten und bewohnen.
Nachtmeer
im Tiefgang porträtiert
Sie schöpft aus rotbraunen sowie ockerbetonten Farbwelten, aber sie lässt sich auch auf blaue Farbwelten ein, um unsere Lebenswelt als ein irdisches Dasein derart ins Bild zu setzen, dass beim
Betrachtenden sogenannte Prototypen oder Urbilder aus dem Unterbewusstsein heraus wachgerufen werden. Annekatrin Brandl hat für die Nacht der Kunst am 01. September 2018
Elementarbilder geschaffen. Ihre Bilder sind Abstraktionen. Die Besucher hatten räumliche Szenen vor Augen, bei denen auf Vieles verzichtet wurde, um Ursprüngliches herauszuheben und durch
die Harmonie der Farben sichtbar zu machen. Die Malerin verzichtete bei ihren Bildern auf jeden Zierrat. Sie ließ jeweils Flächen aufeinandertreffen. Mit oft geringen Differenzen in den
Farbtönen. Bei den Besuchern entstand Farbklang. Sowohl durch die Bilder in den Farbspielen der tiefen Blautöne als auch durch die Bilder in den Rot- und Ockertönen. Beides waren extreme geistige
Verdichtungen. Hier die Häusergruppen auf der Tafel „Licht in der Stadt“ und dort die Meer- und Seeszenen auf der Tafel „Meereslicht“. In beiden Farbspielvarianten kommt ein Gemeinsames zum
Ausdruck. Die „Mutter Erde“ musiziert sowohl im Ockerfarbklang als auch im Tiefblau des Meeres. Ozeane wie Kontinentalschollen vereinen sich zum Oberflächengesicht unseres Heimatplaneten.
Blautöne wie Ockerfarben sprechen uns an bis tief in unser Unterbewusstsein hinein. Das „Nachtmeer“ im Großformat an den Wänden des einstigen Wannenbades durchtönte den gesamten Raum mit einer
Urtiefe und Durchdringung, der sich die Besucher nicht entzogen haben. Zu sehen ist: Nur dunkelblaue Meeresweite durchsetzt von schwarzblinden Nachtsehflecken vor violettem Himmel. Eine
Komposition, bei der sich die Besucher von der Urgewalt des Wassers auf sich selbst hingeführt erlebten, um sich vom Lärm des Tages abzuwenden und in der Dunkelheit auf das Rauschen des Meeres
einzulassen. Aus den Farbflächen der Bilder von Annekatrin Brandl erwachsen Resonanzen, in denen wir uns als dialogische, als sich erinnernde, als sich zwischen divergierenden Emotionen
entlangbewegende Wesen erleben. Ob Meerbilder oder Mohnbilder, durch kontrastreiche Farbflächen werden wir in emotionale Schwingungen versetzt. Wir erleben uns im Widerstreit des Möglichen.
Unsere Aufmerksamkeit fokussieren wir auf das Eine oder das Andere. Unseren Weg im Leben finden wir im jeweiligen biografischen Abschnitt auch nur im Wechselspiel der rivalisierenden Kräfte
und im Zusammentreffen gegensätzlicher Erfahrungen. Beim Blick auf das lange schmale Meeresbild mit dem Segel auf der Tafel „Meereslicht“ waren sich die Besucher der Bilderschau nicht sicher, ob
die fiktiven Betrachter noch eine Weile verharren und sehnsuchtsvoll in die Richtung des Horizonts mit dem hellen Licht blicken können oder ob sie besser die Flucht ergreifen sollten vor dem
Unwetter, das von rechts her über dem dunklen Meer aufzieht. Menschsein ist ein Dasein, das mit Entscheidungen einhergeht, die an Verzweigungen zu treffen sind. An Weggabelungen können
verschiedene Pfade eingeschlagen werden. Es ist die besondere Kunst der Malerin Annekatrin Brandl, in ihren Bildern ursprüngliche Ausdrucksformen zu finden, bei denen es immer auch um die Frage
geht, wie sich im Zusammenspiel von Erdschwere, Horizontweite und Menschenliebe in unserem Dasein sowohl Sinn und Freiheit als auch Heimat eröffnen.
Text 8 I Rede zur Ausstellung: "Dialog der Farben" - (Zyklen: "Farbanalyse" 2018, "Rekonstruktion" 2018 & "Garten der Lust" 2018)
Meeresgrün und Mondgelb - Annekatrin Brandl malt erdverbunden
Sie spricht in Farben zu uns: Annekatrin Brandl. Die Malerin gestaltet Farbflächen, von denen eine emotionale Tiefenwirkung ausgeht. Ihre Flächen beruhigen. Doch horch: Wir schauen auf das „grüne
Meer“ und hören die See rauschen. Und sieh: Wir blicken auf das Bild "der Mond, die Laternen & das Haus", entdecken den vollen Mond, um in Gedanken in das rötliche Haus einzukehren. Wärme des
Wohnens steigt in uns auf. - Flächen in Tief-Rot begegnen uns in den Farbanalysen von Annekatrin Brandl ebenso wie Flächen in Hell-Blau, in Grün-Blau und in Ocker-Gelb. Die Farbmuster wecken
unsere Aufmerksamkeit. Wir beginnen, das Abenteuer des Sehens zu wagen. Wir erinnern uns an Bildeindrücke, die sich in der Vergangenheit eingeprägt haben, die wortlos von uns erlebt wurden, die
aber im Farbgedächtnis sicher aufbewahrt werden. Weil Himmels-Flächen und Meeres-Weiten sowie Flächen der Boden-Ständigkeit zusammentreffen, erarbeiten wir uns als Betrachtende in der Ausstellung
"Dialog der Farben" in Windeseile, ohne dass wir es merken, aus den zweidimensionalen Ansichten an der Wand dreidimensionale Räume. Wir begeben uns lautlos, aber geschwind in ein räumliches
Geschehen. Ob nun Boot oder Brücke oder Bauwerk, in den Bildern erkennen wir Geschichten, die zwischen Himmel und Erde beheimatet sind. Das ist das Stichwort: Wir sind beheimatet unter dem
Himmelsblau, vor dem Meeresgrün und wohnhaft in eckigen Häusern aus Stein, die auf dem Erdboden gründen, aber auch im Rotschimmer leuchten können. Farbflächen berühren sich. Treten in Rede und
Gegenrede. Berühren uns. Versetzen uns in Stimmungen. "Das Boot im Sturm" lässt uns nicht kalt. Das Meer erblicken wir in sehr verschiedenen emotionalen Gesichtern: Mit beruhigender Weite,
friedlicher Tiefe, beglückender Luftigkeit, aber auch mit berohlichen Wetterlagen. In der Ausstellung im Atelier in der Diakonissenstraße 2 haben wir, so möchte ich behaupten, nicht weniger als
künstlerisch entdeckte Elementarbilder unseres Daseins vor uns. Wir finden in der Hektik des Alltags, im Lärm der Gegenwartskonflikte, im Widerstreit unserer eigenen Bestrebungen in dem Moment
des Hinschauens entspannende Augenblicke der Ruhe, der Besinnung auf uns selbst, der Hoffnung auf Frieden, des Beschwingtseins durch Freiheit und der Erfüllung durch Liebe. Es grenzt an ein
Wunder, dass Farben durch unsere Menschenaugen hindurch und im Gespräch miteinander ein Soviel an Stimmung und Sinn und Seelenverwandschaft stiften können. Wie die Alten Meister vor ihr,
bringt Annekatrin Brandl das Licht durch ein dunkles Braun oder Blau, aber auch durch ein abgedunkeltes Grün zum Leuchten. Mit ihrer Pastelltechnik arbeitet sie in der Tradition eines Rembrandt
van Rijn. In ihrem Wunsch, in ihre Bildgeschichten Erdung hineinzutragen, scheint die Malerin mitten im Atelier von Paula Modersohn-Becker zu stehen. Paula malte ihre bodenständige und
naturverbundene und auch deftige Lebensauffassung, die gerade auch in Dörfern gedeiht, in das Gesicht, die Hände und in die Haltung der alten Bäuerin "Dreebeen" hinein. Wie Paula gestaltet
Annekatrin Farbfläche für Farbfläche im Ton der Erde, wenn sie das Meer und die Felder und die Häuser als unser Zuhause entdeckt. Die Leipziger Künstlerin hätte viel zu erzählen, wenn sie Paula
Modersohn-Becker treffen könnte. Im Interview sagte sie am 24. Oktober 2018 im Vorfeld ihrer Ausstellung "Dialog der Farben" über ihr stilles Gespräch mit Paula: "Wir sind Frauen, wir müssen uns
in dieser Künstlerwelt durchsetzen, die meiner Meinung nach schwierig ist. Es ist schwierig, sich als Frau in dieser Künstlerwelt zu behaupten und als Frau künstlerisch seinen Weg zu gehen und an
das zu glauben, was man machen möchte. Ich möchte so wie sie eine sehr ehrliche Kunst machen. Sie soll ehrlich sein und erdverbunden. Den Menschen zugewandt. Ich möchte einfach eine sehr, sehr
gute Künstlerin sein. Das möchte ich sein oder werden; mich weiterentwickeln. Die Kunst ist halt einfach mein Lebensinhalt." Ich glaube, man sieht es in der Ausstellung "Dialog der Farben", die
im Atelier der Künstlerin in der Diakonissenstraße 2 am 15. November 2018 eröffnet wurde.
Text 9 I zu Gast bei Dr. Konrad Lindner in Modelwitz
Farbenleserin
Es war ein Fest des Sehens. Als uns draußen in Modelwitz am 02. August 2018 die Malerin Annekatrin Brandl besuchte. Vom warmen und vom kalten Weiß hatte ich zuvor noch nichts gehört. Aus dem Mund
von Annekatrin erfuhr ich nicht nur davon, sondern die Malerin erläuterte mir diesen Unterschied auch vor der Haustür am Beispiel der Rosen meiner Frau. Dieses kleine Erlebnis der Verwandlung der
Welt, in der man Tag für Tag heimisch ist, in Bildeindrücke der Kunst, empfand ich als ästhetische Erleuchtung. Mich erfüllte aber auch deshalb das Gefühl der Dankbarkeit, weil sich unsere
Besucherin meine letzten Bilder anschaute. Wir tauchten vor allem in die Emotionsräume der Mohnserie ein. Die Bilder waren zunächst Anfang Juni 2018 durch den Kontrast der roten Blüten zum
Noch-Grün der Getreidefelder ausgelöst worden, wobei der Mohn dann aber Anfang Juli 2018 mit einem Getreidegelb in Konkurrenz trat, das durch Dürre verursacht war. Ein radikaler Wechsel der
Farben und ein starker Impuls zum Malen. Bei einigen Mohnbildern deckte Annekatrin Punkte auf, die mir verdeutlichten, dass die Bilder noch im Fluss und somit unfertig sind. Zum Beispiel das
letzte große Mohnbild mit dem goldenen Korngelb und dem dunkelblauen Himmel traf bei aller Zustimmung eine wohldosierte Kritik. Hier wie auch bei einer Reihe anderer Bilder zeigte mir Annekatrin,
dass der Vordergrund noch ein wenig mehr Hingabe und einiges an Arbeit nötig hat. Die Malerin sprach über das Erblickte, indem sie die Bilder wie einen logischen Raum durchquerte. Sie
argumentierte mit einer natürlichen Freude am Entdecken. Beim Austausch über meine Bilder erntete ich hier und dort Kritik, aber auch anerkennende Worte. Durch die Bildanalysen wurden mir
Defizite bewusst, die mir nicht aufgefallen waren. Eine neue Perspektive eröffnete sich. Ich freute mich aber auch, dass Annekatrin die Aquarelle „Mohnleuchten“ im Grossformat und „Mohnabschied“
für abgeschlossen und für gültig hielt. Wir diskutierten ferner über die Farben Rembrandts. Deshalb, weil Annekatrin Brandl, wie sie erzählte, bei sich im Atelier ein Selbstbildnis von Rembrandt
zu hängen hat. Immerhin arbeitet sie in seiner Tradition und vor allem auch mit seiner Technik. Frei nach der Devise: Das Pigment drauf auf den Untergrund! Gleich dort auf dem Malgrund die Farben
mischen, wo das Bild entsteht! Somit eine spezielle Technik der vielen Farbschichten, bei der gilt: Verzichte auf das Mischen im Voraus auf der Palette! Annekatrin erzählte bei der Diskussion
über die Farben Rembrandts auch über die verschiedenen Dunkelbrauntöne, mit denen der berühmte Künstler arbeitete, um Hell gegen Dunkel prallen zu lassen und um das Licht zum Leuchten zu bringen.
Abends beim Weg zur Straßenbahn zeigte die Malerin noch schnell zu einer Laterne. Das Haus dahinter war so ins Dunkel gehüllt, dass man es kaum sah. Jetzt waren die Dunkelbrauntöne Rembrandts auf
einmal mitten in meinem Wohnumfeld angekommen und leibhaftig zu sehen. So deutlich, wie zuvor am Nachmittag das warme Weiß und das kalte Weiß im kleinen Rosengarten meiner Frau. So erlebte ich
mich am Tag des Besuches der Malerin aus Leipzig plötzlich in einer gewandelten kleinen Welt. Zu dem Tag mit Annekatrin Brandl gehörte, dass wir rein nach Schkeuditz radelten und in die
Ausstellung „Element Wasser“ gingen, die meine Malgruppe der „Kreativen Pinsel“ erarbeitet hatte. In der Ausstellung auf den Fluren der Helios-Klinik zeigte mir Annekatrin auf meiner dunkelblauen
Wellen-Trilogie die Dämonen, die ich dort mit reingemalt hatte. Wie den schlafenden Tod, der mir zuvor nicht aufgefallen war. An der Seite der phantasiebegabten Künstlerin begann ich versteckte
Wesen, hier Teufel und da Engel, mit Erstaunen zu sehen. Ich erkannte jetzt Andeutungen von Figuren, die ich gemalt und dennoch nicht erblickt hatte. Das Fest des Sehens bei uns zu Hause in
Modelwitz verging am 02. August 2018 nicht, ohne dass mich Annekatrin dann auch auf die Namen von wenigstens sechs Malern aufmerksam machte, die für einen Farbenmenschen wichtig sind. Es waren
dies: Odilon Redon, Albert Ebert, Gabriele Münter, Alexej von Jawlensky, Gustav Kliemt und Lyonel Feininger. Allein schon der Mohnstrauß von Redon mit dem Titel „Vase of Poppies“ führt durch
seine leuchtenden Blüten symbolträchtig vor Augen, dass das rote Mohnglühen zum Menschenblick und zum Menschenglück dazu gehört. Als ich mein Rot auf die Mohnleinwände spachtelte, hatte ich
die großen Vorbilder nicht schon im Kopf. Umso erfreuter und dankbarer war ich, als mich Annektrin Brandl einlud, am 1. September 2018 im Rahmen ihrer Ausstellung in der Georg-Schumann-Straße 116
in Leipzig drei meiner Bilder auszustellen. Darunter auch die Mohngruppe II vom Juli 2018 mit dem Blau-Lila-Himmel, mit den dunkelroten Blüten bis unten an den Bildrand und mit dem Goldgelb des
Getreides. Ein Farbspiel auf einer Oberfläche von 30 x 30 cm, das für eine Vulkanästhetik steht.
Anmerkungen
Rot, Gelb und Blau
1. Andreas Henning / Harald Marx / Uta Neidhardt: Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden. München / Berlin 2007.
2. Gudrun Schury: Ich Weltkind. Gabriele Münter. Die Biografie. Berlin 2012.
3. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990. Mehr zur Ontologie des Bildes bei: Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht
des Zeigens. Berlin 2017.
4. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Philosophische Untersuchungen. Leipzig 1990.
5. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Herausgegeben von Niklas Hebing. Band 28, 1. Nachschrift zu den Kollegien der Jahre 1820/21 und 1823. Hamburg
2015.
6. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Band 2. Berlin und Weimar 1984.
7. Konrad Lindner: Laokoon und Sixtinische Madonna. Hegels Kunstreisen nach Dresden. In: Menschen im Museum. Dresdener Kunstblätter 3/2017. Vierteljahresschrift der Staatlichen Kunstsammlungen
Dresden. S. 23 – 33.
Erdfarbklang
Die Bestimmung der Erde als das, "woraus alles hervorkommt und wohinein alles eingeht“ findet sich bei Hans-Georg Gadamer in seiner Einführung zu Heideggers Vortrag über den Ursprung des
Kunstwerkes. Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Mit einer Einführung von Hans-Georg Gadamer. Stuttgart 1960.
S. 106. - Die Formulierung vom „Leuchten und Dunkeln der Farbe“ wählte Heidegger. Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart 1960. S. 42. Darüber, dass
der geschichtliche Mensch auf die Erde sein "Wohnen in der Welt" gründet, äußerte sich Heidegger in seinem Vortrag über den Ursprung des Kunstwerkes. Vgl. Martin Heidegger: Der
Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart 1960. S. 43.
Teufel mit Seeblick -
Kunst im Blockstellwerk Elsteraue
Über den "Zauber des Dionysischen" und über das Gefühl, in "die Lüfte emporzufliegen" schreibt Friedrich Nietzsche in seinem berühmten Essay "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik"
(1872). Vgl. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Berlin 2012. S. 32.
Kunstnacht:
Mohnleuchten und Meeresrauschen im Wannenbad
Das Mohnaquarell von Hans-Jürgen Gaudeck besteht aus drei Blüten. Das Bild befindet sich in dem Gedichtband: Eva Strittmatter/Hans-Jürgen Gaudeck: Und Liebe liebt niemals vergebens. Berlin 2015.
S. 31. - Die Ästhetik der Naturfotografien von Wolfgang Müller ist dokumentiert in dem Bildband: Wolfgang Müller/Klaudia Kretschmer: Vulkane hautnah. Augenblicke der Schöpfung. Steinfurt 2012. -
Friedrich Nietzsche legte seinem Zarathustra den Satz mit der Aufforderung zur Erdentreue in den Mund. Vgl. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Stuttgart 1989. S. 6.
Farbenleserin
Über ihren Ansatz in der Malerei schreibt Annekatrin Brandl: "Ich versuche komplexe Lösungsansätze zu finden, komplementiert in einem Bild. Dabei ist der Raum die Realität. Die Realität ist der
Raum.“ Vgl. den Link: https://www.annekatrin-brandl.de/. Eingesehen am 26. August 2018.